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Aufgeblickt

Die fünfte Ansicht im Raum

Aufgeblickt

Wiltrud Föcking zu den Fotos von Christian Wendling

Christian Wendlings Fotoserie AUFGEBLICKT sind Langzeitbelichtungen. Motiv ist der Blick in einen hohen Raum. Die Fotos entstehen ohne Stativ. Die Kamera liegt mitten im Raum direkt auf dem Boden. Passgenau fängt sie ein und hält fest, was über ihr schwebt.

Sakrale Räume

Kirchenkuppeln veranlassen uns in sie hinaufzublicken. Jahrhundertelang intendiert, studiert, praktiziert. Demut des Betrachters vor hohen Mächten, wunderbar geborgen bis eingefroren, der Blick gelenkt ins Jenseits. Bis zur Nackenstarre, hinaufschauen, autsch!, egal! Sich kleiner Fühlen, mea maxima culpa, relativiert die eigene Bedeutung. Denn vom Himmel hoch, da kommt es her und zeigt uns Licht, Farbe, Trost und Hoffnung auf ein Leben nach der Mühsal des Alltags. Und von dort wird es kommen, hernieder dafür. Wie uns die Alten sungen. Gott in der Höh’ sei Preis und Ehr. Reich verziert für eine sehnsuchtsvoll erdachte Ewigkeit. Aus der Tiefe AUFGEBLICKT. Schauen wir hinauf und genießen den Reichtum an Bildern, Farben. Assoziationen an geschichtete Geschichten. Kirchen, Moscheen, eine Synagoge, Vielfalt und Überschneidungen….

Aber Wendlings AUFGEBLICKT hängt nicht an der Decke, sondern an der Wand. Der Blick des Künstlers und seiner Kamera ging Langzeit nach oben und nun zeigt er ihn uns hängend an der Wand. Keine Nackenstarre mehr. Relativ moderat schauen wir uns die verschiedenen Aufblicke an. Aus der Komfortzone heraus dürfen wir horizontal auf die vertikalen Langzeitbelichtungen der Kamera schauen. Eingefroren noch einmal. Nachdem sie bereits jahrhundertelang eingefroren waren.

Gedreht um 90°, reproduziert auf Alu-Dibond wird der Aufblick ins Diesseits übertragen. Der Welt zugewandt. Ohne den vertrauten Kontext sakraler Atmosphäre hängen sie auf der weißen Wand. Befreit, zu betrachten, was ein Einzelner in ihnen sieht.

Christian Wendling erdreistet sich, seinen individuellen Aufblicksausschnitt aus dem Sakralraum in die Welt zu tragen. Darf er das? Was passiert den Kirchenkuppelausschnitten durch diese künstlerische Erdreistung? Können Sie bestehen?

Die weiße Wand tut ihnen nichts. Läßt sie atmen, gibt ihnen die Gelegenheit, mehr zu werden, als religiöse Deko. Als Glaubensillustration. Sie werden zu freien Artefakten. Durch den schöpferischen Akt des Herausnehmens, des Fragmentierens neu geboren, können sie im Auge des Betrachters wachsen und gedeihen.

Hohe Räume

AUFGEBLICKT hat Wendling nicht nur in Kirchen. Überraschende, irritierende. Formale Strukturen, Regelmäßigkeiten, Rhythmen, abstrakte Bilder.

Minimalismen. Ausschnitte, die der Künstler beim Aufblicken gesehen, ausgewählt und begrenzt hat und nun als seinen Auschnitt-Aufblick zeigt. Ah, ein Aufblick? Woher kommt er, aus welchem Kontext geschnitten? Wie geht es weiter? Was macht das Muster und welche Materialität zeigt sich da eigentlich jenseits der Strukturen?

Und dann verliert sich der Gedanke und folgt dem wandernden, spielerischen Blick auf die Rhythmen architektonischer und bildnerischer Linienführung. …

AUFGEBLICKT

AUFGEBLICKT spielt mit Raum und Zeit. Vertrautes wird irritiert durch den Verlust seiner Kontexte. Durch die Ausschnittsauswahl verschwimmen räumliche und zeitliche Verhältnisse … zugunsten subjektiver Perspektiven.

Der Titel ist eine Konjugation des Verbs aufblicken. Welche meint Wendling? Die Perfektform „Ich habe aufgeblickt.“? In der Vergangenheit hat er, der Künstler, mal aufgeblickt und den Blick fotografisch festgehalten. Und mit dem Titel will er den Betrachter über sein Vorgehen informieren und animieren, es ihm gleichzutun? „Ich habe aufgeblickt. Blick mit mir auf.“ oder wohl eher „Ich habe aufgeblickt und schau mal, was draus geworden ist!“.

Vielleicht spricht er uns aber auch im Plusquamperfekt an. „Ich hatte aufgeblickt.“ – was impliziert, dass nach dem Aufblicken etwas passierte, was von Bedeutung ist? „Ich hatte zuerst aufgeblickt und dann entstand das Bild.“ Das Bild macht einen Unterschied zum primären Aufblick des Künstlers. Die zeitliche Abfolge betont, dass das Bild erst nach dem Blick entstanden ist und wirft produktionsästhetische Fragen auf. Das Bild ist Ergebnis aus der Reaktion von Aufblick + künstlerischer Interpretation und Entstehungsprozess = AUFGEBLICKT.

Spitzfindig wird es spätestens nun, wenn wir Konjunktiv II, Präteritum vermuten. Vielleicht will der Fotograf appellieren: Hättest du auch aufgeblickt, hättest du dann dasselbe oder wohl eher etwas anderes gesehen?